Hölderlin, Camus und ich spazieren über den Philosophenweg

Blick vom Philosophenweg hinüber zur Heidelberger Altstadt und zum Schloss (li.) und hinab auf die Alte Brücke über den Neckar. ©Fotos: Anne-Kathrin Reif

Heidelberg, 7. Dezember 2014. Es gibt ja so Lieblingswege im Leben. Solche, die man immer wieder gerne geht. Zu denen man immer wieder gern zurückkehrt. Dazu gehört für mich der Philosophenweg in Heidelberg. Ich liebe ihn, seitdem ich vor einem gefühlten halben Jahrhundert mit meiner Schwester, die seinerzeit in Heidelberg studierte, zum ersten Mal den steilen Anstieg hinaufgestiefelt bin und oben mit diesem wunderbaren Ausblick auf den Neckar, auf die Altstadt jenseits der Alten Brücke und das Schloss auf dem Hügel gegenüber belohnt wurde. Einmal oben angekommen lässt es sich auf dem ebenen Weg hoch über dem Neckar herrlich unangestrengt spazieren und ins Gespräch vertieft philosophieren. Mit der Ahnenreihe der Philosophen und Dichter im Rücken, die diesen Weg vor uns gegangen waren und annähernd die gleiche Aussicht genossen hatten, kamen wir uns als junge Philosophiestudentinnen so vor, als würden wir nahtlos an diese Reihe der großen Geister anschließen. Goethe! Eichendorff! Hebbel! Hölderlin! Hegel! Jaspers! Hannah Arendt! Gadamer! … Am schönsten ist der Philosophenweg freilich im frühen Frühling, wenn hier zeitiger als andernorts die Mandel- und Kirschblüten aufgesprungen sind, und der ganze Weg in der Sonne nach warmen Steinen und wiedererwachendem Leben riecht. Heute, an einem eher trüben Dezembersonntag, sauge ich statt süßen Blütendufts dagegen den modrig-erdigen Geruch von feuchtem Gras und zerfallendem Laub durch die Nase ein – und habe trotzdem das Gefühl, als ginge hier oben, so ein stückweit dem Weltgewimmel da unten entrückt und in der Gegenwart der alten Geister, der Atem ein wenig freier und die Zeit ein wenig gemächlicher.

Ich muss wohl laut gedacht haben, als ich mir gerade vorstellte, wie es wohl wäre, in einer der schönen historistischen Villen mit der Adresse „Philosophenweg“ und Blick auf den Neckar zu residieren, die am Anfang des Weges liegen (… schöne Adresse für einen Camus-Blog…), denn der Mann an meiner Seite wirft ein forsches „na, mit Camus bist du hier aber nicht richtig!“ ein. Oha! Eine Verbindung von hier zu Camus? Na, das ist doch aber mal eine leichte Übung.

Hölderlin-Gedenkstein auf dem Heidelberger Philosophenweg. ©Foto: Anne-Kathrin Reif

Hölderlin-Gedenkstein auf dem Heidelberger
Philosophenweg. ©Foto: Anne-Kathrin Reif

Schließlich trägt der Philosophenweg seinen Namen, weil unter anderem Hölderlin gerne auf dem Weg hoch über dem Neckar lustwandelte, als er sich in Heidelberg aufhielt, belehrt eine Erklärtafel am Rande des Weges (und weiter:  „Zwischen 1837 und 1841 wurde der bis dato beliebte Weinbergspfad in seiner heutigen Form angelegt“). Am östlichen Ende des Weges befindet sich eine kleine halbrunde Anlage, die Hölderlin-Anlage mit dem Hölderlinstein, der die erste Strophe aus der Heidelberg-Ode des Dichters zitiert. Wie intensiv sich Camus letztendlich mit Hölderlin auseinandergesetzt hat, kann ich nicht sagen. Aber in der verherrlichenden Zugewandtheit des Deutschen zu den Alten Griechen hat er ganz gewiss einen Geistes- und Seelenverwandten gesehen. Davon zeugt auch die Tatsache, dass Camus gleich zwei Mal ein Zitat aus Hölderlins Tragödie Der Tod des Empedokles als Epigraph einem Text vorangestellt hat. Sätze so schön, dass es weh tut, Sätze voller Licht und Liebe und Treue zur Erde. Das Epigraph zu Der Mensch in der Revolte:

«Und offen gab mein Herz wie du der ernsten Erde sich
der Leidenden und oft in heilger Nacht
Gelobt ich’s ihr, bis in den Tod
die schicksalsvolle furchtlos treu zu lieben
und ihrer Rätsel keines zu verschmähn.
So knüpft ich meinen Todesbund mit ihr.»

Und dann ist da noch dieser, seinem Essay Hochzeit des Lichts vorangestellte Satz, ein ganz kleiner, einfacher Satz.

«Doch du, du bist zum klaren Tag geboren

Ein kleiner, einfacher Satz – und doch so voller Klang und Licht und Fülle. Ein Satz, der einen, der sagt „man kann sein Leben nicht verfehlen, wenn man es ins Licht stellt“ mitten ins Herz getroffen haben muss (1). Ein schöner Satz für ein ganzes Leben – und auch für einen inzwischen dunkel gewordenen Adventssonntag.

 

P.S. Nicht verschweigen möchte ich, dass laut Wikipedia der Philosophenweg seine Bezeichnung „vermutlich nicht den erwähnten Persönlichkeiten (verdankt), sondern den Heidelberger Studenten, die den Weg wohl schon früh als idealen Ort für romantische Spaziergänge und ungestörte Zweisamkeiten entdeckten. Die synonyme Verwendung der Worte Student und Philosoph stammt aus Zeiten, in denen jeder Studierende vor Beginn des Fachstudiums zunächst Philosophie – die sogenannten sieben freien Künste – studieren musste“.
P.P.S: In der Literatur zu Camus findet sich ein Titel von Willy Stucky: Friedrich Hölderlin und Albert Camus: Zur Verwandtschaft zentraler Gedanken eines schwäbischen Theologen des ausgehenden 18. Jahrhunderts und eines franco-algerischen Agnostikers des 20. Jahrhunderts (107 S., Zürich 1980).
(1) Die Quellenangabe zu dem aus dem Kopf zitierten Satz von Camus muss ich mal wieder nachliefern. Nachtrag, 9.12.: Dabei hätte ich ja nur hier im Blog  nachschauen müssen… Der Satz stammt aus einem Tagebucheintrag von Camus aus dem Jahr 1936, vollständig zitiert hier: Von lächelnder Verzweiflung und Trunkenheit beim bloßen Anblick eines Hügels in der Abendluft

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4 Antworten zu Hölderlin, Camus und ich spazieren über den Philosophenweg

  1. Knut sagt:

    Liebe Frau Reif,

    Sie tragen Ihren Namen wahrlich zu Recht. Ich habe soeben Ihre Webseite entdeckt und bin begeistert… Werde eine Weile brauchen, um die Schätze zu heben! Einstweilen wünsche ich Ihnen weiter „bon courage“. Auch in Tübingen, wo ich vor knapp 40 Jahren mein Studium abgeschlossen habe und wo Hölderlin begraben liegt, gibt es übrigens („natürlich“) einen Philosophenweg. Gern oute ich mich als „Camus-Verehrer“ (sit verbo gratia) und als „christlicher Existentialist“. Herzliche Grüße aus Bayern und alles Gute!

    • Anne-Kathrin Reif sagt:

      Lieber Knut, ganz herzlichen Dank für dieses wirklich große Kompliment! Es freut mich, dass Sie den Blog gefunden haben und ihn weiter verfolgen. Ich wünsche Ihnen viel Freude bei weiteren Entdeckungen auf den Spuren von Camus! Mit herzlichen Grüßen – zurzeit sogar aus Ihrer Heimat (auf Osterurlaub im Allgäu), Anne-Kathrin Reif

  2. Willy Stucky sagt:

    Liebe Frau Reif

    Ein bisschen zufällig bin ich, Willy Stucky aus CH-8330 Pfäffikon, auf Ihren einfühlsamen Artikel vom 7. Dezember 2014 gestossen.
    Meine Dissertation ist nie auf irgendwelches Echo gestossen, obwohl mein Doktorvater, der bekannte Hölderlinspezialist Prof. Dr. Wolfang Binder, sie seinerzeit trotz deren Kürze als „magna cum laude“-würdig beurteilt hatte.
    Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Es geht nicht um meine Eitelkeit, sondern um ein Phänomen des philosophisch-politischen Diskurses innerhalb der europäischen Intelligenz während der vergangenen vierzig Jahre.
    Erst „kürzlich“, nämlich am 15 November 2007, hat Ihr geschätzter Landsmann Peter Sloterdijk in der Aula der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg vor französischen und deutschen Gästen eine Rede gehalten, in welcher er betonte, dass es in der Nachkriegszeit nicht nur eine, sondern zwei nur „allzu erfolgreiche Kriegsergebnisfälschungen“ gegeben habe.
    Sloterdijk nimmt in seinem Vortrag nicht nur die nationalistische, politisch rechts beheimatete Version der Kriegsergebnisfälschung ins Visier, sondern meines Wissens als erster Philosoph von Format auch die in Akademikerkreisen eher pfleglich behandelte, wenn nicht gar in Schutz genommene Fälschung linker Provenienz. Als Folge seines neuen Ansatzes ortete Sloterdijk die für den Frieden in Europa entscheidenden intellektuellen Leistungen zur Aufarbeitung der französischen Niederlage von 1940 just bei denen, die „zwischen den rivalisierenden Systemen“ eingeklemmt gewesen seien – allen voran Albert Camus.
    Sloterdijk hat seinen Vortrag unter dem Titel „Theorie der Nachkriegszeiten“ (Suhrkamp, Frankfurt am Main, 2008) veröffentlicht. Dort finden Sie, liebe Frau Reif, auf Seite 46 unter anderem Folgendes: „Aus später Sicht ist überdeutlich, dass es Camus war, der schon in den späten vierziger Jahren auf die richtigen Fragen die richtigen Antworten gegeben hatte. Er war es, der nach den Gewaltexzessen der ersten Jahrhunderthälfte unkorrumpierbar an das irdische Mass erinnerte und die unverhandelbare Verbindlichkeit zivilisierender Besinnung hochhielt.“

    Ich werde Ihr Buch „Albert Camus – Vom Absurden zur Liebe“ alsbald kaufen und lesen. Vermutlich ist die zentrale Referenzgrösse für einen Vergleich von Hölderlin und Camus tatsächlich die Liebe, und zwar die Liebe, wie sie von beiden in sehr ähnlicher Weise verstanden wurde: verwurzelt in der Erfahrung des Individuums und schliesslich transzendiert in die Wirklichkeit einer (politischen) Macht, die allen Formen des Totalitarismus entgegensteht.
    Übrigens spielt das Absurde im Sinne Camus auch bei Hölderlin eine entscheidende Rolle, war er doch als philosophisch hochbegabter Dichter am Entstehen dessen, was heute philosophischer Idealismus genannt wird, massgeblich beteiligt. Nur hat er sich im Gegensatz zu Hegel bald einmal vom stringenten spekulativen Denken abgewandt, weil er dessen Kälte nicht ertrug, und zwar über hundert Jahre, bevor die Folgen Hegels und dessen Jüngers Marx sichtbar werden konnten. Für Camus waren sie sichtbar geworden; und er hat ähnlich darauf reagiert, wie Hölderlin mit grosser Wahrscheinlichkeit darauf reagiert hätte.

    Willy Stucky
    info@pulvesuisse.ch

  3. meikemeilen sagt:

    Liebe Anne-Kathrin,
    ich war noch nie in Heidelberg und empfinde das als große Lücke, die es zu füllen gilt. Nun hast Du den Wunsch auf eine Tour dorthin bei mir weiter befeuert. Ich muss unbedingt auch mal auf dem Philosophenweg wandeln! Danke für den schönen Artikel!
    Viele Grüße, Meike

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