Sète, 4. Juli 2013. Drei, vier Tage hat es gedauert, bis der Süden auch in der Seele angekommen ist. So lange hat es gebraucht, bis die Alltagsbilder und Alltagsgedanken von Arbeit und Großraumredaktion restlos von der Sonne aufgezehrt und vom blauen Meer weggespült worden sind. Bis die innere Uhr endlich, endlich langsamer läuft.
Langsam bis überhaupt nicht läuft im Übrigen auch die hiesige Internetverbindung (was in dem Fall dann wiederum kein Vorteil ist), weshalb der Blog jetzt schon unvorhergesehen lange verwaist ist. Ganz abgesehen davon, dass es mir zwischenzeitlich in der Tat geradezu absurd erschien, hier – womöglich im Café oder gar am Strand – vor dem Computer zu sitzen.
Camus ist trotzdem nah, hier, mit Blick auf das blaue Meer, nicht allzuweit weg von Lourmarin. Und so wundert es dann fast schon nicht mehr, dass er gleich am ersten Abend gewissermaßen mit am Tisch saß, draußen an der letzten Fischbude am Hafen, ein ganzes Stück hinter der langen Reihe von Lokalen, die sich mit mehrsprachig angepriesenen Touristenmenüs zu überbieten suchen.
Die gegrillten Sardinen waren köstlich.
„Ah, ihr seid das also, die uns die letzten Sardinen weggeschnappt haben!“, feixen mit gespielter Empörung zwei sympathisch-wild aussehende, wettergegerbte Gestalten, die sich am Nebentisch niederlassen. Elf Stunden hätten sie mit dem Boot von Perpignan aus gebraucht, nur um hier Sardinen zu essen – „und nun das!“, jammern sie, allerdings mit breitem Grinsen. Woher wir kommen, wollen sie wissen, wie wir heißen, was wir machen… das übliche freundliche Geplänkel. Sein Kumpel hier, der schweigsamere von beiden, das sei Jean-Paul, und er, er heiße Farid. „Ich bin hier geboren, aber vom Ursprung her bin ich Berber, aus der Kabylei“, schiebt er als Erklärung für seinen unfranzösischen Vornamen hinterher. „Ah“, sage ich, „aus Algerien!“. Farid reißt die dunklen Augen auf: Wieso ich denn das weiß?!?, fragt er, und ich setze zu einer längeren Erklärung an: „Ich habe einiges von Camus gelesen…“ – „Ah! Camus! Ein großer Mann!“, wirft Farid voller Enthusiasmus ein –
„… und eine seiner ersten Reportagen, die er als junger Journalist für den Alger Républicain schrieb, war über das Elend der Berber in der Kabylei, La misère de la Kabylie“. Farid strahlt über das ganze braungebrannte Gesicht und wirft mir eine lange Reihe von Kusshänden zu. Fortan haben wir, zumindest für diesen Abend, einen neuen Freund. Während wir (keine Widerrede!) Stückchen von am Spieß gegrillter Leber und Rinderherz probieren müssen, danke ich Camus für diesen schönen mittelmeerischen Abend und dafür, dass er mir dieses fremde Herz geöffnet hat, und beschließe, daheim sehr bald noch einmal La misère de la Kabylie zu lesen.
…es sind die unerreichbaren Dinge, die ich am meisten neide. Ihnen eine gute Zeit in Sète….