Nein ich bin nicht gerade in Marseille – aber ich denke sehr gerne daran zurück: An diesen Vormittag im Januar, als ich bei strahlendem Sonnenschein und frühlingshaften Temperaturen bei einem Café au lait dort mit Lou Marin zusammensaß. Wir sprachen über dieses und jenes, über Camus im Allgemeinen, vor allem aber über dessen journalistische Texte in der Untergrundzeitung Combat – denn Lou Marin ist es zu verdanken, dass man diese Texte seit kurzem auch auf deutsch lesen kann. Wofür man ihm tatsächlich gar nicht genug danken kann, denn schon der schiere Umfang dieser zwei dicken Bände (im Foto oben liegen sie auf dem Tisch) macht deutlich, welch großer Teil des Camus’schen Denkens und Schreibens (und letztlich: Lebens) hierzulande außerhalb des kleinen Kreises von Camus-Experten weitgehend unbekannt geblieben ist. Umso mehr, nimmt man noch die 2013 ebenfalls von Lou Marin übersetzten und ebenfalls im Hamburger Laika Verlag erschienenen Libertären Schriften von Camus hinzu.
Enthalten die beiden Bände alle von Camus in Combat veröffentlichten Texte? (Ja, es sind alle 165 Artikel, die Camus namentlich veröffentlicht hat oder die ihm zugeordnet werden konnten). Wie lange hat er an der Übersetzung gearbeitet? (Ein Jahr lang, jeweils am Vormittag). Was war die größte Herausforderung dabei? (Man merkt, dass diese journalistischen Artikel von einem Schriftsteller geschrieben wurden. Die wenigen pathetischen Texte geben einen falschen Eindruck, in der Mehrzahl sind sie sehr nüchtern und klar, einfach klasse. Das rüberzubringen ist schon eine Herausforderung). Hat er Camus dabei noch einmal neu entdeckt? Was ist ihm als besonders spannend in Erinnerung geblieben? … Als ich mich im Januar mit Lou Marin in Marseille verabredete, war ich fest entschlossen, das Gespräch im Blog in Interviewform wiederzugeben. Allerdings habe ich noch bevor der Café au lait abgekühlt war kapituliert: Der Mann weiß einfach zu viel. Und er sprudelt sein Wissen in solch einem Tempo heraus, dass man gar nicht anders kann, als gefesselt an seinen Lippen zu hängen. Unmöglich, dabei auch noch schreibend mitzuhalten.
Eine fabelhafte Gelegenheit, das selbst einmal zu erleben, bietet sich Ende des Monats in Aachen: Lou Marin kommt am 22. Mai auf Einladung der Albert Camus-Gesellschaft ins Philosophische Institut Logoi. Unter dem Titel Freiheit um der Freiheit willen stellt er den Résistant und Libertär Albert Camus vor (Beginn: 20 Uhr, Eintritt frei).
Lou Marin, geboren 1961, kommt selbst aus dem politischen Aktivismus der „Graswurzelrevolution“ und ist Mitherausgeber der gleichnamigen gewaltfrei-anarchistischen Monatszeitung. Seit Ende der 1970er-Jahre ist er in gewaltfreien Aktionsgruppen im Rahmen der Anti-Atomkraft-Bewegung sowie der Friedensbewegung und vielen weiteren Initiativen aktiv. Er ist Autor zahlreicher Veröffentlichungen nicht nur über Albert Camus sondern auch über Mahatma Gandhi, Martin Buber und vieles mehr – und ein fesselnder Redner, der frei vortragend aus einem immensen Wissenschatz schöpfen kann. Seit 2001 lebt er als Journalist, Autor und Übersetzer in Marseille. Lou Marin hat Camus‘ Libertäre Schriften erstmals 2008 im französischen Original und 2013 von ihm selbst übersetzt auf deutsch herausgebracht. Die von ihm übersetzten Combat-Texte wurden zusammengestellt, herausgegeben und kommentiert von der Camus-Expertin Jacqueline Lévi-Valensi, die schon an der Herausgabe der Camus-Gesamtausgaben bei Gallimard mitwirkte.
Lou Marin (Hg.): Albert Camus – Libertäre Schriften (1948-1960), Übersetzung aus dem Französischen von Lou Marin, Laika Verlag, Hamburg 2013, 24,90 Euro.
Jacqueline Lévi-Valensi (Hg.): Albert Camus – Journalist in der Résistance (1944–1947), zwei Bände (übersetzt von Lou Marin), Laika Verlag, Hamburg 2014, je Band 24,90 Euro.
P.S.: Und für die Camus-Freundinnen und -Freunde in Österreich: Lou Marin ist am 15. Mai, 11 Uhr, zu Gast im Kulturzentrum Avalon in Wien. Im Rahmen der „Kritischen Literaturtage 2015″ stellt er unter dem Camus-Titel „Weder Opfer noch Henker!“ die libertären und Résistance-Schriften von Camus vor. Info hier
Liebe Frau Reif, wenn Sie nach Aachen fahren, nehmen Sie vielleicht den Aufsatz von Claus Leggewie in der FAZ vom 6. Mai mit: „Der andere 8. Mai 1945“. Leggewie schaut auf die lang vertuschten Verbrechen der französischen Kolonialmacht in Algerien zurück, die am 8. Mai 1945 mit einer Demonstration für die Unabhängigkeit in Sétif ihren Anfang nahmen und mit 30.000 Toten (vorläufig) endeten. Camus´ Kritik fand damals kein Echo; Frankreich, so zitiert ihn Leggewie, habe die Menschenrechte nicht vor dem Faschismus retten und sie den „Eingeborenen“ verweigern können.
Ist dies ist nicht auch eine Antwort auf Willy Stuckys Frage?
Dass sie die „365 Tage“ um viele weitere Tage erweitern, dankt Ihnen
Ihre Ruth Schlette
Wäre Aachen für mich nicht so weit weg, würde ich mich am 22. Mai dorthin begeben.
Ich würde Lou Marin fragen, wie er Camus‘ Begriff der „société factice“ ins Deutsche übersetze.
Bekanntlich sind wir Westeuropäer derart stolz auf unsere Menschenrechte, dass wir sie den Menschen aus anderen Kulturen permanent um die Ohren hauen. Doch auch die Menschenrechte bringen etwas Künstliches und Virtuelles in die zwischenmenschlichen Beziehungen der Individuen. Aus lauter Angst vor allen möglichen und unmöglichen Ungerechtigkeiten sind wir meines Erachtens zu Rechtsbesessenen geworden, die einander gar nicht mehr richtig spüren – eben zu einer „société factice“ in einem bisher nie erreichten Ausmass.
Getraut sich der gewaltfreie Anarchist Lou Marin auch die Menschenrechte in Frage zu stellen oder sieht er wie das Gros unserer Politikerinnen in deren permanenter Entwicklung ausschliesslich einen Segen?