Heute steht ein Ausflug nach Cabrières d’Avignon und Fontaine de Vaucluse an – nur eine kurze Strecke entfernt von unserem Quartier in der Nähe von Ménerbes und auch nicht weit weg von L’Isle-sur-la-Sorgue … Es wäre doch ein Wunder, wenn Camus diese wunderbaren, in überwältigend schöne Landschaft eingebetteten Orte auf einem seiner Spaziergänge und Ausflüge mit seinem Freund René Char nicht besucht hätte.
In Cabrières d’Avignon interessieren mich vor allem die Überreste der Pestmauer, die dort noch gut erhalten sein sollen. Sie maß einst rund 27 Kilometer und erstreckte sich zwischen Cabrières d’Avignon und Monieux. Eine Mauer gegen die Pest mitten in der Provence? Das kam so: Im Jahr 1720 brach die letzte große Pestepidemie über Marseille herein, eingeschleppt von einem aus Syrien kommenden Schiff. Der Norden der Provence war jedoch lange verschont geblieben. Im März 1721, nachdem das Reiseverbot die Ausbreitung der Pest nicht bekämpfen konnte, beschloss der Vizelegat des Papstes, eine etwa 27 Kilometer lange und rund zwei Meter hohe Trockensteinmauer zwischen Cabrières d’Avignon und Monieux errichten zu lassen. Etwa 1000 päpstliche Soldaten bewachten die Grenzmauer. Ob man dachte, die Pest würde in Gestalt schwarzer Reiter über das Land hereinbrechen, die man mit Mauern und Soldaten aufhalten konnte? Der Erfolg war naturgemäß äußerst begrenzt. Und während die Pest im Süden bereits abklang, kam sie über die Rhône nach Avignon. 1722 erlebte dann das Comtat Venaissin eine schreckliche Epidemie. Die Soldaten an der Pestmauer wurden kurzerhand durch französische Truppen ausgetauscht, und die Bewohner waren Gefangene der eigenen Mauer. Erst ab Januar 1723 war auch im Comtat Venaissin die Pest überwunden.
Eine Vereinigung des Departement Vaucluse renoviert die Pestmauer seit 1986 regelmäßig. Entlang der Mauer verläuft ein Wanderweg, der bei Langnes startet. Wachhäuschen und spezielle Meilensteine erinnern an jene Zeit, die in ganz Europa viele Menschen das Leben kostete. (1)
In Cabrières d’Avignon führt hinter dem Schloss ein Weg dorfauswärts, auf dem man nach wenigen hundert Metern den ersten Meilenstein des Pestwegs erreicht. Wir waren schon auf dem Weg, als ich mich doch noch einmal bei einem Dorfbewohner über die richtige Richtung vergewissern wollte. „Ja, ganz recht, immer weiter die Straße entlang“, bestätigte der ältere Herr. „Aber nicht in den Schuhen!“, setzte er streng hinterher. Also zurück zum Auto, Schuhe wechseln. Ich bin jetzt noch froh, auf ihn gehört zu haben. Der krumpelige schmale Weg, der zunächst ein wenig auf und ab durch eine Art Wäldchen führt, wäre zwar auch in Sommerschuhen noch einigermaßen gangbar gewesen. Der Weg aus losem, grobem Schotter entlang der eigentlichen Mauer wäre dagegen ohne feste Schuhe eine Tortur. Im weiteren Verlauf hält der Weg überdies sehr schmale Stellen oberhalb steiler Abhänge bereit, wie wir später noch erfuhren. In der brennenden Juli-Hitze sind wir soweit allerdings nicht vorgedrungen und haben es nach zwei, drei Kilometern gut sein lassen. Der Vorteil einer solch unzeitgemäßen Wanderunternehmung ist freilich, dass man kaum anderen Ausflüglern begegnet. Einmal völlig allein in dieser Landschaft von herber Schönheit stehen. Kein Haus, keine Straße soweit das Auge reicht. In der Sonnenglast, die schwer über der Landschaft liegt, mischen sich Düfte von Harz, wildem Thymian und heißem Stein, und das ohrenbetäubende Konzert der Zikaden verstärkt nur noch das Schweigen der Welt. Camus-Stimmung pur.
Ob Camus vielleicht hier der erste Gedanke zu seinem Roman Die Pest gekommen ist? Wie wenn in der Gegenwart der 1940er Jahre eine ahnungslose mittelmeerische Hafenstadt wie Marseille oder Oran von der Seuche heimgesucht würde, mag er sich vielleicht gefragt haben… Und wäre nicht eben das die perfekte Metapher auf die politische Pest, die gerade die Herzen der Menschen verseuchte und soviel Leid, Tod und Unfreiheit über sie gebracht hatte?
In Marseille wird übrigens heute noch die Erinnerung an die Pestepidemie von 1720 hochgehalten. Erst kürzlich hielt Kardinal Gianfranco Ravasi dort die Feier zum Hochfest des Heiligsten Herzens Jesu ab. Sie „verbindet sich mit einem historischen Ereignis, dass den Marseillern sehr am Herzen liegt: Es geht um die große Pestepidemie, die sich im Jahr 1720 wie ein Leichentuch über der Stadt ausbreitete. Die sogenannten ,échevins’, die Schreiber kümmerten sich damals darum und sie waren genau hier, wo man später die Sacré Cœur-Basilika errichtete. Aus diesem Grund wird der ,Vorhof der Völker‘ den wir jetzt hier in Marseille veranstalten aus einem Aspekt der bürgerlichen Religiosität vor Ort auch ,parvis du coeur’ genannt, also ,Vorhof der Herzen’“, erklärte der Kardinal im Juni dieses Jahres (2).
Den „Vorhof der Völker“ hatte Papst Benedikt XVI. 2009 ins Leben gerufen. In seiner Weihnachtsansprache vor der Römischen Kurie sprach er sich für einen vertieften Dialog mit dem Atheismus aus. Zuständig für die Organisation des „Vorhof der Völker“, der an jeweils unterschiedlichen Orten veranstaltet wird, ist der Päpstliche Kulturrat. In diesem Jahr wurde er in Marseille abgehalten. Thema war die Begegnung von Humanismus und Religion. Im Zentrum stand das Denken von Paul Ricœur und Albert Camus.
(1) Quelle: www.belocal.de/Vaucluse; wikipedia. (2) Beitrag von Radio Vatikan am 8. Juni 2013
Da moechte man am liebsten gleich aufbrechen. Das Buch „Die Pest“ in der Hand und ein Geschichtsbuch und den ganzen Weg ablaufen. So schoen ist das beschrieben.
Wunderbar.