Sète, 6. Juli. Ich muss gestehen, dass ich mit dem Namen Jean Vilar außer einer vagen Vorstellung von Theater nicht viel verbunden hatte. Spaziert man durch Sète, erschließt sich seine Bedeutung auch nicht gerade zwangsläufig. Gut – das wie eine Festung auf einer Anhöhe am Stadtrand liegende und aufs Meer hinausblickende Freilufttheater Théâtre de la Mer, in dem derzeit beim alljährlichen world wide festival die Jugend der Welt zu weithin hörbaren elektronischen Beats die Nächte durchtanzt, heißt inzwischen offiziell Théâtre Jean Vilar. Und auf dem bei der Touristeninformation ausgegebenen Stadtplan ist sein Geburtshaus in der Rue Gambetta verzeichnet, das man dann allerdings nicht findet, weil jegliche Hinweistafel fehlt. Das ist es dann aber auch schon.
Den schnöden Umgang mit dem bedeutenden Sohn der Stadt beklagt denn auch Hervé Le Blanche, der Verfasser eines schmalen Bändchens, das die Histoire(s) de Sète et des Sètois aufarbeitet. Jean Vilar, lerne ich dort, gilt als großer Erneuerer des französischen Theaters. 1947 gründete er das Theaterfestival von Avignon, bis heute eines der wichtigsten weltweit. Geboren wurde Jean Vilar am 25. März 1912 in Sète, nicht in eine arme, aber auch keine begüterte Familie. Sein Vater führte ein kleines Boutique-Geschäft. Dass diese Eltern ihren Sohn aufs Collège schickten, war durchaus nicht selbstverständlich, denn es fiel gewiss nicht leicht, das Schulgeld aufzubringen. 1932 ging Vilar zum Studium nach Paris. Und dort, mit zwanzig, entdeckte er das Theater für sich. Dass er das Studium schmiss, dürfte seine Eltern nicht gefreut haben. Doch offenbar war er so begabt, dass er sich sehr schnell als Schauspieler und bald auch als Regisseur einen Namen machte.
Als Camus 1942 nach Paris kam, war Jean Vilar mithin als Theatermann bereits etabliert, Camus war bald als Verfasser von Der Fremde und Der Mythos von Sisyphos, 1942 bei Gallimard erschienen, in aller Munde. Da muss es geradezu als zwangsläufig erscheinen, dass sich die Wege dieser beiden Theaterbegeisterten kreuzten. „Vilar betrieb in Paris das Théâtre de la poche am Boulevard Montparnasse, wo Camus, Gallimard, André Gide und Nathalie Sarraute seiner Inszenierung von Strindbergs Totentanz applaudierten“, schreibt Le Blanche, allerdings ohne Angabe der genauen Jahreszahl. 1945 jedenfalls ist es Vilar, der Camus applaudiert: nämlich der Uraufführung seines Caligula im Théâtre Hebertôt. In der Hauptrolle: Gérard Philipe, der aufgehende Stern am französischen Theaterhimmel. Vilar ist sofort begeistert von dem jungen Schauspieler. 1949, zum dritten Festival von Avignon, bietet er ihm die Hauptrolle in Le Cid von Corneille an, die Philipe jedoch ablehnt. 1951 sagt er schließlich für Kleists Prinz von Homburg zu, und lässt sich auch zu Le Cid überreden – den er dann in insgesamt 199 Aufführungen mit triumphalem Erfolg spielt. Ein knappes Jahrzehnt verbindet Jean Vilar und Gérard Philipe eine enge Zusammenarbeit. Gérard Philipe, heute eine Theaterlegende in Frankreich, starb noch im selben Jahr wie Camus, am 25. November 1960, unvorhergesehen plötzlich an Leberkrebs. Am 4. Dezember 1960 wäre er erst 38 Jahre alt geworden.
Über Maria Casarès, Camus’ lebenslange Geliebte, will ich an dieser Stelle gar nicht viel sagen, denn sie verdient (und bekommt sicherlich auch irgendwann) einen eigenen Blog-Eintrag. Wie eng sie mit Jean Vilar verbunden war, lässt sich vielleicht anhand ihrer Memoiren Résidente priviligiée herausfinden, die ich hier aber nicht zur Hand habe. Eine enge Arbeitsbeziehung war es gewiss. 1946, Maria und Albert waren bereits seit zwei Jahren ein Paar, steht sie zum ersten Mal mit Jean Vilar auf der Bühne, in Romeo et Jeanette von Jean Anouilh. Schon 1948 lädt Vilar sie zum Festival nach Avignon ein, aber sie akzeptiert erst 1954 beim siebten Festival die Rolle als Lady Macbeth mit Vilar selbst in der Titelrolle. Bis 1960 folgen noch diverse gemeinsame Projekte, dann erst wieder 1967 nach längerer Pause spielt sie in Avignon die Medea in einer modernen Adaption von Vauthier. 1968 veranlasste Jean Vilar den Choreographen Maurice Béjart für Avignon ein auf Maria Casarès zugeschnittenes Stück zu schreiben (Nuit obscure), das die Disziplinen von Tanz und Theater verbinden sollte. Vermutlich könnte man von hier aus jetzt sogar eine ziemlich direkte Linie zu Pina Bausch und dem Tanztheater Wuppertal und damit zu meiner eigenen unmittelbaren Gegenwart ziehen. Aber diese Abzweigung nehme ich jetzt nicht, denn erstens hat es noch Zeit bis zur Rückkehr nach Wuppertal, und zweitens blieb bis jetzt ja noch die dritte Querverbindung zwischen Vilar und Camus unerwähnt, nämlich René Char.
Der Dichter René Char, einer der engsten und wichtigsten Freunde von Camus, war es nämlich, der Jean Vilar mittelbar oder unmittelbar auf die Idee zur Gründung des Theaterfestivals von Avignon brachte. Nach Hervé Le Blanche, Verfasser der Geschichte von Sète, war es Char, der Vilar mit dem Kunsthistoriker Christian Zervos bekannt machte, von dem wiederum der Vorschlag stamme, im Ehrenhof des Papstpalastes von Avignon eine Theater-Freiluftaufführung zu veranstalten. Nach anderen Quellen war es Char selbst, der den Anstoß dazu gab, woraus Vilar dann die Idee zur Gründung eines regelmäßig stattfindenden Festivals entwickelte.
Man kann also getrost davon ausgehen, dass Camus und Vilar sich des öfteren begegnet sind und dass sie in der gemeinsamen Leidenschaft für das Theater und jene Menschen, die in beider Leben eine große Rolle spielten, eine nicht unerhebliche gemeinsame Bezugsgröße hatten. Dass es direkte Korrespondenz und die Erwägung gemeinsamer Projekte gegeben hat, belegt darüber hinaus der Camus-Biograph Olivier Todd: 1956 widmet sich Camus wieder viel dem Theater (er verfolgt sogar den Plan, in Paris selber eines zu gründen) und bearbeitet Stücke anderer für die Bühne. Die Regisseure bemühen sich um ihn, schreibt Todd, nicht nur, dass Jean-Louis Barrault Das Schloss von Kafka in einer Bearbeitung von Camus auf die Bühne bringen will, auch Jean Vilar möchte nach der Herzogin von Amalfi, deren von Camus handgeschriebene Bearbeitung er verloren hat, eine weitere haben, nämlich Caldérons Richter von Zalmea.
Damit ich aber nach dieser theaterhistorischen Exkursion jetzt wieder in der Gegenwart ankomme, stelle ich mir einfach Folgendes vor: Jean Vilar, gerade mal wieder auf Heimatbesuch in Sète, dem er sich sein Leben lang sehr verbunden fühlte, überredet Camus, gerade auf Familienurlaub im Vaucluse, sich in seinen Citroen zu setzen und mal rasch herüberzukommen. Nicht ganz zu Unrecht dachte er sich, Camus ließe sich an einem lauen mittelmeerischen Sommerabend mit Blick aufs Meer bei einem Dutzend Sètoiser Austern und einem kühlen Rosé leichter für das gemeinsame Projekt einnehmen. Wenn schon Caldéron, muss es unbedingt der Richter von Zalmea sein? Vielleicht nicht doch lieber Das Leben ein Traum? Wird Gérard Philipe eine Rolle darin annehmen? Und Maria? Die Überlegungen gehen hin und her, es wird ein ausgesprochen anregender Abend… Dass aus dem gemeinsamen Theaterprojekt nichts geworden ist, liegt vermutlich daran, dass ich mir diesen lauen Abend in Sète nur ausgedacht habe. Aber immerhin: Er hätte genau so stattfinden können. Die Sètoiser Austern sind übrigens wirklich köstlich.
Wunderbar, alles ist vorstellbar und könnte sich so ereignet haben . Man fühlt sich mitten drin.