31. Dezember 2024. „Was ist dein vorherrschendes, dein bestimmendes Lebensgefühl, wenn du auf dein Leben blickst?“, fragte mich mein alter Freund J. vor einigen Wochen bei einem unserer kostbaren seltenen Abendessen. Puh, eine große Frage zwischen türkischem Lammeintopf und Digestif. Ich dachte nach. Spürte in mich hinein. „Dankbarkeit“, sagte ich dann. J. nickte. „Bei mir auch.“ Und wir waren uns auch ohne weitere Ausführungen sicher, damit das Gleiche zu meinen: Nämlich, dass es für uns, ganz gleich wie es in der Welt aussieht, ganz gleich, was es an unüberschaubaren Schwierigkeiten und Problemen aller Art im ganz privaten, im heimischen politisch-gesellschaftlichen Bereich und in globaler Dimension zu bewältigen oder auszuhalten gilt, es dennoch genug Gründe für uns gibt, um dankbar zu sein. Und dass dieses Lebensgefühl tragen kann, auch durch stürmische Zeiten. Braucht Dankbarkeit einen Adressaten? Mein Freund J. ist überzeugter Katholik. Er wird wissen, wem er seinen Dank abstattet. Aber spielt das eine Rolle? Mein Dank geht hinaus ins Unbekannte. Man kann auch wie Camus einen Sinn für das Heilige haben, ohne an Gott zu glauben (1).
Am Ende eines Jahres gilt der Dank, den ich ausspreche, immer eben diesem: dem sich verabschiedenden Jahr. Eine Unzahl Bilder des Jahres läuft dann im Schnelldurchgang vor meinem inneren Auge ab. Schreckliches, schwer Auszuhaltendes aus der Welt da draußen, Schwieriges, Anstrengendes und Trauriges aus dem inneren Lebenskreis genauso wie schöne und beglückende Erlebnisse allein oder in Gemeinschaft. Am Ende eines Jahres: Danke für ein weiteres Jahr Leben. Danke an alle Menschen, die mir lieb sind, dass Ihr noch da seid. Danke, dass es Euch gab, an die, die sich verabschieden mussten.
Dankbarkeit, obwohl so vieles im Argen liegt, egal wohin man schaut? Und obwohl wir wissen, wie brüchig und bedroht all das ist, dessen wir uns gerade noch glücklich schätzen? Ja – trotz dessen und eben deshalb. Dankbarkeit setzt das Bewusstsein von Kostbarkeit voraus. Und etwas, das im Kern immer schon bedroht ist, ist kostbar.
„Ich habe immer den Eindruck gehabt, mich auf hoher See zu befinden: mitten in einem königlichen Glück bedroht“, notierte Camus in sein Tagebuch (2). Auch das hätte ich auf die Frage meines Freundes J. nach meinem Lebensgefühl antworten können, es ist genauso wahr. Die Bedrohung des eigenen Glücks ist allgegenwärtig. Umso mehr Grund zur Dankbarkeit, wenn es wieder einmal gelungen ist, das eigene Lebensschiff unversehrt durch ein weiteres Jahr navigiert zu haben.
Danken möchte ich am Ende des Jahres auch allen Camus-Freundinnen und Blog-Lesern (und umgekehrt), die dem Blog trotz der wieder einmal sehr großen Lücken die Treue gehalten haben und deren oft unverhoffte Resonanz per Mail oder Kommentar mich immer wieder darin bestärken, den Camus-Faden hier im Blog nicht aus der Hand zu geben. Wie es mir gelingen wird, ihn 2025 im dann zwölften Jahr weiterzuspinnen … wir werden sehen. Lassen wir uns gemeinsam überraschen.
Ich wünsche Ihnen und Euch ein neues Lebensjahr 2025 mit 365 dankbaren Tagen. In diesem Sinne: Bonne année et à bientôt!
P.S. Ich widme diesen Beitrag insbesondere meinem Freund J. mit Dankbarkeit für fast 45 Jahre Freundschaft.
(1) Ich bin mir einigermaßen sicher, dass die Aussage „Ich glaube nicht an Gott, aber ich habe einen Sinn für das Heilige“, von Camus irgendwo dokumentiert ist, kann die Quelle aber gerade nicht verifizieren. In die gleiche Richtung geht aber das Zitat „Ich habe einen Sinn für das Heilige, und ich glaube nicht an ein zukünftiges Leben; das ist alles“ – Camus im Interview mit Jean-Claude Brisville (1959), deutsch in >Du<. Die Zeitschrift der Kultur. Heft Nr. 6/1992: Wiederbegegnung mit Albert Camus. Zürich, S. 19-20. (2) Albert Camus, Tagebücher 1951-1959. Deutsche Übersetzung von Guido G. Meister. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1991, S. 12. Eintrag 2. Hälfte 1951.
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Am letzten Tag des Camus-Jahres – Abschied und Neubeginn (2013)
Liebe Anne-Kathrin Reif,
Danke für diesen wunderschönen Beitrag zum Jahresende. Er erinnert mich an einen Satz aus Christiane Brückners Romantrilogie ‚Poenichen‘ :
Es gibt mehr zu danken als zu klagen.
Leider scheint sich diese Einstellung heutzutage oft ins Gegenteil verkehrt zu haben.
In der Hoffnung auf ein weiteres Jahr mit Camus,
ein treuer Blogleser
Lieber Thomas Scholz, lieben Dank für Ihren Zuspruch! Brückners „Poenichen“ habe ich vor vielen Jahren auch sehr gerne gelesen. ! Herzliche Grüße, Anne-Kathrin Reif
Liebe Anne-Kathrin Reif,
Ich danke Dir für diesen Sylvester-Gruß. Ja, das Jahr war finster, nicht nur wegen des weiter wachsenden „Elends der Welt“, von dem Pierre Burdieu schon vor fünfundzwanzig Jahren schrieben – und wegen ihres scheinbaren Selbstlaufs , in den gestaltend einzugreifen schwerer zu werden scheint, sondern auch wegen manchem im eigenen inneren Lebenskreis. Dankbarkeit im Blick zurück auf dieses Jahr wäre mir da vielleicht nicht gleich in den Sinn gekommen, aber Du hast Recht: mit dem Camus-Zitat „Ich hatte immer das Gefühl, auf hohem Meer zu leben, bedroht, im Herzen eines königlichen Glücks“, mit dem er den letzten seiner Mittelmeer-Essays „Heimkehr nach Tipasa“ großartig endet, ist dieses Gefühl auch verknüpft.
Zustimmung also zu dem, was du schreibst, und danke für die Ermunterung. Die und ungebrochen weiter Mut zur Zuversicht sind ein guter Gedanke für das neue Jahr, das nicht nur einfach kommt, sondern dass es „auf hoher See“ zu leben gilt.
Herzliche Grüße
Helmut Martens
Lieber Helmut Martens, es freut mich, dass meine Gedanken Dich erreicht haben! Herzlichen Dank für den Zuspruch und alles Gute, Anne-Kathrin
Danke Dir für Deine Worte und Deinen Blog. Ich wünsche Dir ein gesundes, anregendes und spannendes neues Jahr. Herzliche Grüsse
Herzlichen Dank für den Dank nnd für die guten Wünsche! Alles Gute auch für Dich!
Herzlichen Dank für den Dank und für die guten Wünsche! Alles Gute auch für Dich!
Vielen Dank für Ihre herzlichen Worte, ihre wunderbaren Worte
Ich wünsche Ihnen ein sehr schönes 25
Ganz liebe Grüsse
Henrique Leemann
Lieber Herr Leemann, ich freue mich! Vielen Dank und alles Gute auch für Sie!
Vielen Dank für diese wunderbare Reflexion zum Jahresausklang, liebe Anne-Kathrin Reif, und dass Sie den Camus-Faden für uns alle ganz wunderbar in den Händen und seine Gedanken hoch halten und uns zum Nachdenken anregen. Wie hätte ich die Frage früher beantwortet? Die Frage Ihres Freundes ist eine, der wir uns jeden letzten Tag im Jahr einmal stellen sollten und die sich vermutlich durch die Zeit verändert. Sie rüttelt wach und schärft den Blick für die Weichenstellung im kommenden Jahr- denn es liegt ja auch an uns, welche Vorzeichen wir unserer Welterfahrung geben wollen, wohin wir unseren Blick lenken und durch welche Grundhaltung wir wahrnehmen und verarbeiten. Danke vielmals für all die Anregungen durch die Zeit und ganz besonders die heutige. In diesem Sinne herzlichst ein gutes Neues Jahr 2025!