Ein großer Hörgenuss: Ulrich Matthes liest „Der Fremde“ (75 Jahre „Der Fremde“ 3)

Ganz egal, ob oder wie oft man den Fremden von Albert Camus schon gelesen hat: Es lohnt sich, das Hörbuch einzulegen und 223 Minuten dem wunderbaren Schauspieler Ulrich Matthes zuzuhören. Langweilig wird es keine Minute. Vor allem deshalb, weil bekanntermaßen in der ganzen Geschichte ziemlich wenig passiert. Eine Beerdigung, Alltagsleben und ein paar Alltagsvergnügungen wie Schwimmen oder ins Kino gehen, ein überraschender, für alle Beteiligten unvorhergesehener Mord (juristisch nach heutigen Maßstäben eigentlich ja ein Totschlag), schließlich der Prozess, Verurteilung, Ende. Als Leser*in ist man da schnell durch und fängt an, sich seine eigenen Gedanken zu machen über diesen Charakter Meursault, über die Schuldfrage, über das Urteil; am meisten fesseln vielleicht die Begegnungen von Meursault mit dem Untersuchungsrichter und dem Gefängnispfarrer, in denen die zuvor im Text verborgenen philosophischen Fragen offen herausbrechen.

Beim Zuhören erscheint vieles ganz neu

Ich kann gar nicht mehr sagen, wie oft ich den Roman gelesen und einzelne Passagen im Zuge meiner Arbeit zum Gesamtwerk von Camus quasi auf links gedreht habe, dazu Bühnenadaptionen, Visconti-Verfilmung, Bildergeschichte. Und dennoch habe ich gefesselt der Stimme von Ulrich Matthes gelauscht und mich gewundert, wie neu mir manches erschien, ja – eigentlich fast alles. Es kommt mir vor, als habe ich zum ersten Mal die Geschichte nicht als unbeteiligte Zuschauerin wahrgenommen sondern durch die Augen von Meursault selbst. Ulrich Matthes verwandelt sich in den Ich-Erzähler Meursault. Über sehr, sehr lange Strecken spricht er in dem gleichen, gleichmäßigen, unaufgeregten Tonfall, der keine Gefühlslage erkennen lässt. Nicht gefühllos im Sinne von kalt und herzlos sondern frei von Emotionen blickt er auf alles, was geschieht. Er ist der indifférent, der Gleichgültige (wie Camus seinen Roman zunächst nennen wollte). Ulrich Matthes spricht nicht nur im nahezu immergleichen Tonfall sondern auch in einem gleichbleibend mäßigen Tempo. Keine Eile. Das schwerfällige Tempo eines heißen Sommers.

Als Leser*in hat man sein eigenes Tempo. Liest hier etwas genauer, huscht dort über einen Absatz hinweg, hält anderswo inne. Als Zuhörer*in ist man gezwungen, dem Tempo des Erzählers zu folgen. Das ist so, als würde man einen Spaziergang mit einem Kind unternehmen, das einen zwingt, sich selbst zu verlangsamen. Und durch dessen Augen man die Welt neu entdeckt. Meursault sagt über sich selbst, er sei einer, der nicht viel nachdenke. Ihm ist alles Empfindung, Sinneseindruck. – War mir klar, habe ich beschrieben. – Aber (ich bekenne es etwas verschämt): Noch nie hatte ich es so deutlich wahrgenommen. Der Ich-Erzähler Meursault beschreibt alles mit solch einer Aufmerksamkeit für Details – für die Gerüche, Geräusche, Empfindungen, für die Farben des Himmels, der Gewächse auf dem Weg zum Strand, der Einrichtung eines Lokals, der Kleider der Menschen, mit denen er zu tun hat, ihrer Hautfarbe, ihrer Gesichtszüge, ihrer Bewegungen und und und –, wie sie wohl kaum einer von uns je in seinem Alltag aufbringt. Jedenfalls nicht bewusst. Plötzlich sehe ich Meursault noch einmal mit anderen Augen. Als den Fremden, Seltsamen, Gleichgültigen hatte ich ihn immer nur von außen betrachtet, ihn gewissermaßen auf Distanz gehalten. Jetzt denke ich: Er hat mir, uns, auch einiges voraus. Wir können von ihm lernen, was es heißt, im Augenblick da zu sein. Und wie man das macht. Zum Mörder werden wollen wir deshalb natürlich nicht.

Nuancenreich verändern sich Stimmlage und Rhythmus

Auch nach seiner Verhaftung verliert Meursault nicht diese für ihn charakteristische Aufmerksamkeit des Empfindens. Alles nimmt er ganz genau war und beschreibt es präzise – da ist das rundliche Gesicht des Untersuchungsrichters, das sich verzerrt, wenn er von Gott spricht, der sonderbare schwarz-weiß-gestreifte Schlips seines Anwaltes… Aber zugleich passiert plötzlich so viel mehr, das seine Aufmerksamkeit verlangt, Richter, Anwalt, später der Gefängnispfarrer reden auf ihn ein – und wieder ist es großartig, wie subtil der Sprecher Ulrich Matthes die Veränderungen, die in und mit Meursault vorgehen, hörbar macht. Gleich nach der Verhaftung ändert sich der Erzählrhythmus, wird schneller, steigert sich fast zu einem Stakkato, so viel stürzt auf Meursault ein. Das gleichmäßige Tempo des heißen, trägen Sommers ist unwiderruflich vorbei.

Wenn er die Rede der anderen (Richter, Anwald, Pfarrer) widergibt, wird die Stimme nuancenreicher, er verleiht ihr mehr Nachdruck oder versetzt sie mit einem Hauch von Erstaunen, Empörung, Verdruss. Auch Meursaults eigene Gefühlswelt wird mit dem Zunehmen an Reflexion vielfältiger – was Ulrich Matthes wiederum genau dosiert hörbar macht, nie zuviel, nie aufdringlich, fast unter der Wahrnehmungsschwelle und damit umso glaubwürdiger. Was für eine Kunst!

Der Schauspieler Ulrich Matthes – auch ein
begnadeter Hörbuchsprecher. Foto: Wiki commons

Ulrich Matthes wurde am 9. Mai 1959 in Berlin geboren und gilt als einer der renommiertesten deutschen Schauspieler. Er spielte u.a. am  Düsseldorfer Schauspielhaus, am Münchner Staatsschauspiel, an den Münchner Kammerspielen, in Berlin an der Schaubühne am Lehniner Platz und am Deutschen Theater sowie am Burgtheater in Wien. Seit 2004/05 ist er festes Ensemblemitglied am Deutschen Theater in Berlin. Daneben wirkte er in zahlreichen TV- und Kinofilmen mit. Er wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Faust-Theaterpreis, der „Goldenen Kamera“, dem Grimmepreis und zweimal als „Schauspieler des Jahres“ (2005/2008). Das Foto zeigt den Schauspieler bei der Preisverleihung der Deutschen Akademie für Fernsehen 2015 („Bester Schauspieler Nebenrolle“ in der TV-Produktion Bornholmer Straße).

 

♦ Das Hörbuch Der Fremde, gesprochen von Ulrich Matthes, ist erschienen bei Steinbach sprechende Bücher (2013), 3 CD (223 Min.), 14,99 Euro (oder als Download über die Verlagswebseite für 4,99 Euro).

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