Eine Lesung nicht in Bibliotheken oder Literaturclubs sondern in großen Häusern mit mehreren hundert Plätzen, durchweg ausverkauft, mit begeistertem Publikum und ebenso begeisterter Presse – für dieses überraschende Phänomen sorgen zurzeit Joachim Król und das orchestre du soleil, die mit Albert Camus‘ autobiographischem Romanfragment Der erste Mensch auf Tournee sind. So auch am vergangenen Sonntag im 700 Plätze fassenden Robert-Schumann-Saal in Düsseldorf. Joachim Król, den man aus vielen Film- und Fernsehrollen als eher leisen, mit sparsamer Gestik und subtiler Mimik überzeugenden Schauspieler kennt, sitzt auf einem Barhocker vor dem Lesepult am vorderen Bühnenrand, hinter ihm im Halbrund auf einem Podest das fünfköpfige orchestre du soleil, hebt an zu lesen und breitet die Arme aus. Er wiegt den Oberkörper, und während die eine Hand rudernd das Gleichgewicht sichert, gestikuliert und akzentuiert er mit der anderen Hand, als gelte es, einen vor ihm liegenden Notentext zu dirigieren. Unterlegt von den melodiösen Klängen des kleinen Orchesters verleiht er seiner Stimme Nachdruck, bis sein Vortrag schon fast einem Gesang gleicht.
Das orchestre du soleil sorgt für einen farbenreichen Soundtrack
Das mit Klarinette, Percussion, Bass, Oud und Akkordeon besetzte orchstre du soleil malt mit arabisch anmutenden Klängen einen musikalischen Hintergrund, der die Zuhörer nach Nordafrika versetzt, in die Heimat von Camus, in das Land seiner Kindheit. Camus lässt in Der erste Mensch sein alter ego Jacques Cormery dorthin zurückkehren, gewissermaßen auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Joachim Król taucht tief ein in dessen Erinnerungen, er macht sie sich zu eigen, er lässt sich hineinfallen und schwelgt in ihnen. Es ist, als würde die algerische Sonne aus der Erinnerung heraus in den Zuschauerraum strahlen, das Meer leuchten und selbst noch die armselige Drei-Zimmer-Wohnung, in denen Jacques/Albert mit seiner Mutter, Großmutter, Onkel Etienne und Hund Briard zuhause ist, mit einem Glanz aus Gold und Blau überziehen, der jegliche Tristesse vergessen macht. Noch die schlichteste Beschreibung wird mit Emphase versehen, getragen und befeuert von der Musik. „Der mit den Worten tanzt“, raunt mir meine Freundin S. zu und liefert mir damit dankenswerter Weise die Überschrift für diesem Beitrag.
Król lässt die Figuren mit seiner Stimme lebendig werden
Zum Glück hat Joachim Król mehr zu bieten als diese „Achwiewardasallesherrlich“-Attitüde. So lässt er die furchteinflößende, herrische Großmutter mit harter oder mit dräuender Grabesstimme sprechen und gibt der Mutter, die gar nicht weiß was Auflehnung ist, eine Stimme der Sanftmut und Duldsamkeit. Er lässt den kleinen Jacques zu den Erwachsenen hinaufpiepsen und verleiht dem Pfarrer ebenso Gestalt wie dem Lehrer Louis Germain, der die Familie zuhause aufsucht und dafür sorgt, dass sein begabtester Schüler allen Widerständen zum Trotz aufs Lycée darf. Diese Passagen, in denen die Musik aussetzt und der Schauspieler das wechselnde Personal quasi vor unseren Augen nur mit seiner Stimme lebendig werden lässt, sind die wirklich starken und überzeugenden Stellen der Aufführung. Aber da sind ja noch all die Freuden der Kindheit, da stürmen die Jungs auf den Fußballplatz, da geht es mit Onkel Etienne und seinen Kumpels zur Hasenjagd, da ist das Meer, in das man sich hineinstürzen kann. Und so wie ins Meer stürzt sich der Sprecher in diese Erinnerungen, lässt sich forttragen und sich wiegend auf ihnen treiben, auf dem Meer dieser Erinnerungen und auf der schönen Musik, und alles ist Begeisterung, Rührung, Dankbarkeit. Mitreißend wirkt das, das Publikum lauscht gebannt und spendet am Ende begeisterten, lang anhaltenden Applaus.
Und wenn nun in all den Städten, wo sich ähnliche Szenen abspielen, nur ein Teil der vielen Menschen dadurch vielleicht erstmals einen Zugang zum Werk von Camus findet oder ihn wiederentdeckt, wenn diese Menschen dann in die nächstgelegene Buchhandlung gehen, um sich Albert Camus‘ Der erste Mensch zu besorgen und selbst einzutauchen in dieses abenteuerliche Leben, das sich ausspannt zwischen Analphabetenhaushalt und Literaturnobelpreis, dann soll es mir recht sein.
Und doch: Weniger wäre mehr gewesen
Für mich selbst wäre weniger mehr gewesen. In meiner Vorstellung passt das schwelgerische, alles verklärende Pathos nicht so recht zu Camus, oder genauer: zum Camus des Premier homme. Denn zwar kennt man durchaus einen gelegentlichen pathetischen Ton von Camus, aber in Der erste Mensch erzählt er sehr schlicht, fast nüchtern, mit schnörkelloser Sprache, und er beschreibt mit großer Genauigkeit kleinste Details, ohne dabei etwas zu verklären. Ich für meinen Teil sehe ohne diese jede Erinnerung zum Ereignis steigernde Emphase, die der Sprecher hineinlegt, die Szenen klarer vor mir – das Elend und das Licht, die Freude und die Scham.
An diesem Abend vermisse ich den Ernst, ich vermisse die nüchterne Klarheit, mit der Camus so detailgenau erzählt – nicht weil er sich fortreißen ließe von der übermächtigen Fülle der eigenen Erinnerungen, die ihn bei der Rückkehr in die verlorene Heimat überflutete, sondern weil es gilt, dieses Leben in Armut und diese Menschen, die in der Geschichtsschreibung nicht vorkommen, dem Vergessen zu entreißen und diese Quelle, aus der sich sein ganzes Schaffen speist, zu würdigen, indem er ihr einen Platz in der Literatur erschreibt. In dieser geschichtslosen Welt der Armen ist jeder „der erste Mensch“, der im Strom der Geschichte auftaucht und wieder verschwindet, ohne sich mit ihm zu verknüpfen. Auch Camus selbst ist in der Welt seiner Kindheit der erste Mensch. Aber seine Geschichte wird erzählt werden, das weiß er, der Nobelpreisträger, und das versetzt ihn in die Lage, all die anderen, von denen längst niemand mehr spricht, mitzunehmen in diese Geschichte und ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. „Ein Leben ist so gut wie das andere“, heißt es in dem Roman Der Fremde, mit dem sein Ruhm begann. Deshalb ist Der erste Mensch weit mehr als ein persönliches Erinnerungsbuch und mehr als die Geschichte eines Bildungsaufsteigers. „Mehr als“ heißt ja „durchaus auch das“. Aber eben nicht nur. Ich hätte mir von einem eigentlich doch großartigen Schauspieler mehr Zwischentöne gewünscht, die das deutlich machen.
Ein bisschen ist dieser Abend vielleicht so wie eine Literaturverfilmung, bei der man auch oft enttäuscht ist, weil sie immer anders und irgendwie „weniger“ ist als das, was man lesend imaginiert hat. Wer das Buch vorher nicht kannte, hat dagegen einfach einen schönen Film gesehen.
Mitwirkende: L’Orchestre du Soleil: Maria Reiter Akkordeon, Ekkehard Rössle Flöte/Klarinette, Christoph Dangelmaier Kontrabass/ Kompositition, Samir Mansour Oud, Omar Placencia Percussion. Textbearbeitung, Produktion, Inszenierung: Martin Mühleis.
Weitere Termine: 25. Januar, 19.30 Uhr, Wolfsburg, Scharoun Theater; 26. Januar, 20 Uhr, Schauspielhaus Kiel; 27. Januar, 20 Uhr, Kammerspiele Theater Lübeck, Klieverhagen 50; 28. Januar, 20 Uhr, Darmstadt, Staatstheater; 1. Februar, 20 Uhr, Kulturhaus Weißenfels, Merseburger Str. 14; 2. Februar, 19 Uhr, Mainz, SWR Funkhaus; 3. Februar, 19.30 Uhr, Theater Koblenz.
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