Wien. Ach, wenn er das doch noch erleben könnte, der Herr Camus. Wieder einmal ist eine Vorstellung vom „Missverständnis“ im prächtigen neobarocken Volkstheater in Wien mit seinen über 900 Plätzen bummvoll, wieder einmal Applaus ohne Ende, das Ganze ist ein Renner, und die Kritiker haben auch gejubelt. Tatsächlich musste Camus erleben, dass sein Stück 1944 bei der Uraufführung im Théâtre des Maturin in Paris komplett durchfiel. Wundern tut’s einen eigentlich nicht, schließlich handelt es sich um eine moderne Tragödie im äußerst düsteren Gewand eines Schauerstücks, an dessen Ende drei der vier Hauptpersonen ermordet oder suizidiert auf dem schlammigen Grunde eines Flusses vergammeln, und die vierte in der öden böhmischen Pampa verzweifelt und buchstäblich gottverlassen zurückbleibt. Das Wunder ist eher, dass ein junger Grazer Puppenspieler gut 70 Jahre später daherkommt und mit eben diesem Stück Menschen in großer Zahl berührt und bezaubert. In sehr großer Zahl, denn schon am Theater Graz, wo Nikolaus Habjan seine Inszenierung 2014 zuerst herausgebracht hatte, lief sie mit großem Erfolg. Und jetzt also am Volkstheater in Wien, wohin ihn Intendantin Anna Badora bei ihrem Wechsel mitgenommen hat.
Wer ein wenig diesen Blog verfolgt, weiß, dass ich zwar versuche, möglichst alles zu erfassen, was von Camus auf deutschsprachige Bühnen kommt, aber keineswegs nun wie verrückt irgendwelchen Vorstellungen hinterher reise. Manchmal schaff’ ich’s ja noch nichtmal im näheren Wuppertaler Umkreis. Aber seit ich anlässlich der Grazer Premiere zum ersten Mal von dieser Missverständnis-Inszenierung las, hatte ich den dringenden Wunsch, diese nun aber ganz bestimmt einmal zu sehen, trifft hier doch meine Camus-Passion auf eine noch ältere Liebe meines Lebens, nämlich das Figurentheater. Und so war nun eine Missverständnis-Aufführung im Volkstheater in der Tat Anlass für einen ohnehin schon längst wieder einmal fälligen Besuch in einer meiner liebsten Lieblingsstädte. Für eine journalistisch saubere Theaterkritik ist dieser Blogbeitrag mithin verloren, dafür war ich einfach, nach allem was ich zuvor schon gesehen und gelesen hatte, zu positiv voreingenommen. Allerdings war für mich die entscheidende Frage schon noch offengeblieben, nämlich wie viel Camus – das heißt wie viel über die vordergründige Schauergeschichte hinaus – in einer Inszenierung als Figurentheater wohl erhalten bleiben würde. Heute kann ich mir gar nicht mehr vorstellen, das Stück überhaupt noch einmal besser mit „echten“ Schauspielern umgesetzt zu sehen. Die Frage dürfte damit beantwortet sein.
Aber jetzt noch mal von Anfang an. Die Szenerie ist düster, grau in grau. Auf der Bühne ein Aufbau mit einer schiefen Ebene, darauf wie inmitten einer sehr einsamen Landschaft ein Puppenhaus, hinter dessen Fenstern nach und nach die Lichter angehen, während man aus dem Off zwei Frauen miteinander sprechen hört. Martha und ihre Mutter reden über den Gast, der versprochen hat, zurückzukommen, der vielleicht reich ist, und der ihr nächstes Opfer werden wird. Sie werden ihn umbringen und auf dem Grund des Flusses versenken wie all die anderen vorher, damit sie mit dem geraubten Geld dem trostlosen Dasein in ihrem kalten, regenreichen Heimatland entfliehen und ein glückliches Leben in einem sonnigen Land am Meer führen können.
Schon dieser Auftakt ist bestechend: Das Puppenhausidyll mit seinem heimelig-warmen Licht hinter den Fenstern, das einen in Kindheitsstimmung versetzt, und das mörderische Komplott, das darin gerade geschmiedet wird.
Eine seltsame Gestalt betritt die Bühne, sein Kittel grau wie die ganze Szenerie, grau das wirre Haar, grau sein Maskengesicht. Es ist der alte Knecht, der jetzt das den Bühnenaufbau überdeckende graue Tuch abräumt und die Szenerie für den Rest des Stückes freigibt: der Empfangstresen einer Pension, davor ein Tisch, ein Sessel, alles grau in grau. Jan (Florian Köhler) und Maria (Seynab Saleh) erscheinen, verwickelt in einen heftigen Disput über Jans Vorhaben, allein in der Pension seiner Mutter und Schwester zu übernachten und sich zunächst nicht zu erkennen zu geben.
Ihre Gesichter sind weiß geschminkt, ein leichter Verfremdungseffekt, aber es sind immer noch richtige Menschen. Wie werden die Figuren ins Spiel kommen? Und wie kann das zusammengehen?
Jan setzt sich durch, Maria geht und lässt ihn allein in der Pension zurück. Auf seinem Zimmer (das wir auf der schiefen Ebene zur Szenerie hinzuimaginieren) packt er seinen Koffer aus – und zieht sein Figuren-Ich hervor. Ab jetzt ist er doppelt da und auch wieder nicht, er verschmilzt mit seiner Figur, und er versteckt sich hinter ihr. Jans Unentschlossenheit, seine Zerrissenheit, sein Versteckspiel spiegeln sich perfekt in dieser Doppelexistenz.
Anders die Figuren der beiden Frauen, Martha und ihre Mutter: Sie sind ganz und gar eins mit sich selbst – obwohl doch die Spieler, die ihnen Atem und Stimme geben, zugleich mit ihnen auf der Bühne sichtbar sind, obwohl auch diese physisch mit den Figuren verschmelzen. Aber die Spieler sind nicht als sie selbst anwesend, sie sind da und treten doch vollständig hinter ihre Figuren zurück. Die junge Schauspielerin Seynab Saleh, gerade noch höchst überzeugend als die für ihre Liebe kämpfende Maria auf der Bühne, führt und spricht die alte Mutter. Nikolaus Habjan, Schöpfer des Ganzen, führt und spricht die Martha.
Im Grunde ist es ist Verwirrung pur. Ein junger Mann spielt eine Frau, eine junge Frau spielt eine alte, und beide Frauen sind nur halbe Puppenwesen, deren Kleider wie leere Hüllen herabhängen, die uns aber vollständig erscheinen, weil wir ihnen die Beine und Füße der Spieler zuschlagen. Der Witz ist nur: Das alles erscheint völlig selbstverständlich. Diese Figuren sind ganz und gar überzeugend. Vielleicht sogar mehr als es ein Bühnenschauspieler in einer Rolle je sein könnte. Denn: Sie spielen ja nicht. Sie sind. Solange ihnen von den Spielern Leben eingegeben wird, sind sie lebendig und vollkommen wahrhaftig da. Sind sie von ihren Spielern getrennt, sind sie wahrhaftig tot. Wenn es ums Sterben geht, sind die Puppen Schauspielern gegenüber sogar klar im Vorteil, wie Nikolaus Habjan sagt, denn niemand kann so überzeugend sterben, wie eine Puppe. „Ist die Verbindung zum Puppenspieler getrennt, verwandelt sich die handelnde Person in ein lebloses Ding, scheinbar weit entfernt davon, jemals gelebt zu haben.“ Vorher aber hat dieses Ding gelebt mit allem, was dazu gehört. Jedenfalls kommt es uns so vor. Die Müdigkeit der Mutter, die des Mordens überdrüssig ist. Wie abgenutzt dieses Leben ist. Das namenlose Entsetzen, als sie erkennt, dass sie mit diesem fremden Gast ihren lange vermissten Sohn ermordet hat. Das kurze Auflodern ihrer schon im Verlöschen begriffenen Lebendigkeit durch den Schmerz, durch die wiedergefundene Liebe. Marthas Härte und Verbitterung. Wie sie für kurze Momente weich wird und durchlässig, wenn sie von ihrem Traumland am Meer spricht, wo sie endlich das Glück finden würde. Das Aufscheinen dieses Glücks, zum Greifen nah (wunderbar untermalt mit Charles Trenets La Mer, das von einem alten Kofferplattenspieler erklingt). Das Zusammenbrechen dieser Glücksvision, die entsetzliche Erkenntnis, dass die ganze mühsame Plackerei des Mordens umsonst war, dass nichts mehr zu retten ist. – Es ist alles da, das ganze Gefühlsspektrum, wahrhaftig, berührend.
Es fehlt nicht viel, und man möchte ihnen zurufen „Schau ihn doch an, den Pass, leg ihn nicht weg!“ „Jetzt sag doch endlich, wer du bist!“ „Nein, trink den Tee nicht, er ist vergiftet!“ Sie warnen wie einst den Kasper, wenn das Krokodil auftauchte. Das Figurentheater weckt unsere vielleicht verschüttete kindliche Fähigkeit, die Dinge zu beseelen, einzusteigen in diese Welt des Spiels, die zur Realität wird. Zugleich wissen wir natürlich als Erwachsene darum und sind fasziniert davon, dass es dennoch funktioniert. Auch wir sind doppelt und eins zugleich in diesem Moment, wie die Wesen auf der Bühne.
Schließlich kehrt Maria in die Pension zurück, sie will zu Jan, sie hat genug, sie will dem ganzen Spuk ein Ende machen und sagen, was ist: Er ist euer Sohn und Bruder, er ist gekommen, um euch glücklich zu machen.
Maria ist die einzige der Protagonisten, die es nicht als Puppe gibt. Auch das ist durchdacht, konsequent, richtig. Sie ist diejenige, die von Anfang an für die Wahrheit einsteht, sie hat sich Jan gegenüber zwar nicht durchgesetzt, sie hat sich angepasst und gefügt, aber jetzt ist es genug. Die weiße Schminke ist aus ihrem Gesicht gewischt. Während alle anderen irgendwie in Lüge und Verstellung verstrickt sind, ist sie aufrichtig und klar: Wer erkannt werden will, muss sagen, wer er ist. Es könnte so einfach sein.
Seynab Saleh fällt die schwere Aufgabe zu, im letzten Akt gegen die Puppen anzuspielen, mit ihnen auf gleicher Höhe zu agieren. Davon hängt viel ab, wenn es nicht gelingt, kann alles kippen. Beinahe überflüssig zu sagen: Natürlich gelingt es ihr. Glaubhaft vermittelt sie das Umschlagen von hoffnungsfroher Entschlossenheit in die größte Verzweiflung, das Zusammenbrechen eines ganzen Lebens im Gewahrwerden des Unfassbaren. Die Szene gelingt als ein dramatischer Höhepunkt – in die sich freilich der einzige echte Wermutstropfen dieses ganzen Abends mischt. Denn während zuvor einige Textstriche zwar auffallen, aber durchaus verkraftbar sind, hat Habjan hier in sehr weitgehender (und wie ich finde: unzulässiger) Weise in den Text eingegriffen: Im Originaltext ruft Maria in der Schluss-Szene voller Verzweiflung Gott an, sie fleht ihn an um Hilfe und Mitleid – und der alte, bislang stumme Knecht erscheint („Sie haben mich gerufen?“) und spricht das letzte Wort des ganzen Stücks: „Nein“. – Bei Habjan kommt Gott nicht vor, er lässt Maria ihr Flehen direkt an den Knecht richten, und der antwortet gar nicht erst. Das „Nein“ spricht sie selbst. Aber warum? Und warum überhaupt diese Änderung, die den Knecht einfach nur Knecht sein lässt und mir nichts dir nichts dem Stück einfach mal die Schlusspointe nimmt? – Maria ruft Gott an, und der Knecht erscheint. Ist es Gott, der den Menschen in ihrem Unglück ungerührt seine Hilfe verweigert, jener Gott, der sich selbst das Glück der Steine vorbehält, von dem Martha spricht? Oder ist es nur ein weiteres Missverständnis? Die Gestaltung des Knechts als eine Art Zwischenwesen – keine Puppe, aber ein seltsames Maskenwesen – wird dieser rätselhaften Figur ganz wunderbar gerecht – umso unverständlicher erscheint dieser Eingriff. Camus entlässt uns mit diesem Rätsel aus dem Theater, ein Rätsel, das uns wach hält und in dem die philosophische Ebene des Stücks noch einmal verdichtet aufscheint. Nicht umsonst war sein Arbeitstitel für das Stück zunächst „Budejovice (oder Gott gibt keine Antwort)“.¹
Sicher nimmt kein Regisseur einen solch schwerwiegenden Eingriff leichtfertig vor. Was hat ihn dazu bewogen? Erklären kann ich es mir bislang nicht. So werde ich nach einem großartigen Theaterabend von einem anderen als von Camus intendierten Rätsel wachgehalten…
Dennoch bleibt es ein großartiger Theaterabend. Und Gott hin oder her ist auch die „Moral“ des Stücks angekommen: „Wenn ein Mensch erkannt werden will, dann muss er ganz einfach sagen, wer er ist. Wenn er schweigt oder wenn er lügt, stirbt er einsam und stürzt alles um ihn herum ins Unglück. Wenn er dagegen die Wahrheit sagt, wird er zweifellos auch sterben, aber erst nachdem er den anderen und sich selbst geholfen hat, zu leben.“²
Info
Bühne: Jakob Brossmann, Kostüme Denise Hesch, Dramaturgie Heike Müller-Merten.
Mit Nikolaus Habjan (Martha/Der alte Knecht), Florian Köhler (Jan/ Der alte Knecht), Seyneb Saleh (Die Mutter/ Der alte Knecht).
Nächste Vorstellungen: 13. und 21. April, 19.30 Uhr, Volkstheater Wien.
(1) Albert Camus, Tagebücher 1935-1951. Deutsche Übersetzung von Guido G. Meister. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1963, 1967, S. 149. (2) Albert Camus, Oeuvre complètes I, 1931-1944, édition publiée sous la direction de Jacqueline Lévi-Valensi, Gallimard, Paris 2006, Bibliothèque de la Pléiade, p. 507.
Herzlichen Dank, Frau Reif!
Vermutlich habe ich noch nie eine so gute Theaterkritik gelesen, und zwar sowohl in formaler als auch in inhaltlicher Hinsicht. Was den Inhalt anbelangt, so durfte ich konstatieren, dass nach der Lektüre Ihrer Kritik das ganze Stück, vermittelt durch die äusserst präzise Beschreibung der Inszenierung, bis ins Detail wieder vor mir stand. Ja, es stand vor mir, wie es im Buch geschrieben steht. Und nun weiter im Text mit dem deutschen Verb „stehen“: Offensichtlich hat Habjan Camus‘ „Das Missverständnis“ verstanden und nicht selbstherrlich daran herumgeflickt. Seinen meines Erachtens kleinen Eingriff in den Text verzeihe ich ihm gerne, denn die Dialektik des schweigenden Gottes, der just in seinem Schweigen existiert, hat es in sich, gründlich missverstanden zu werden. Ich finde es sogar gut, dass der Knecht nicht einmal Nein sagt, sondern schweigt, was schliesslich zu seiner Rolle gehört.
Letzteres ist selbstverständlich keine Kritik an dieser hervorragenden Theaterkritik. Camus hatte seinen Schluss ohne Zweifel mit Bedacht gewählt. Andererseits neigen halt alle intelligenten Menschen dazu, ihre Leser und Zuhörer zu überfordern, was indessen nicht weniger selbstverständlich auch keine Kritik am Autor ist.
Lieber Herr Stucky, herzlichen Dank für Ihren freundlichen Kommentar und die erweiterte Sichtweise! Mit besten Grüßen, Anne-Kathrin Reif