„Am 28. April indessen gab Ransdoc eine Ausbeute von ungefähr 8000 Ratten bekannt, und in der Stadt erreichte die Beklemmung ihren Höhepunkt. Man verlangte durchgreifende Maßnahmen, man klagte die Behörden an, und einige, die ein Haus am Meer besaßen, spielten bereits mit dem Gedanken, sich dorthin zurückzuziehen.“ (1)
29. März 2020. Auch ich bin der in der Stadt deutlich spürbaren Beklemmung entflohen und habe mich für ein paar Tage zurückgezogen – zwar nicht in ein Haus am Meer, aber auf dem Land. Wenn man sich dazu noch ein wenig in Nachrichtenabstinenz übt, kann man fast glauben, die Welt sei noch in Ordnung. Abstandhalten fällt hier leicht und nicht besonders auf, fast jeder hat ein Haus mit Garten, man unterhält sich mit den Nachbarn wie sonst auch über den Zaun, hält einen Meter mehr Abstand als sonst und gibt sich halt nicht die Hand. Ein strahlender Frühlingstag, eine blühende Wiese, ein Gang durch den Wald und meditatives Unkrautjähten helfen außerdem, sorgenvolle Gedanken wenigstens für eine gewisse Zeit auszublenden. Und ja, das ist Luxus. Wer die Gelegenheit zu solchen kleinen Fluchten hat, kann sich glücklich schätzen, denn sie helfen, nicht zu schnell ungeduldig zu werden. Noch immer gibt es viele, die glauben, diese Heimsuchung werde sich spätestens in ein paar Wochen erledigt haben, und wir könnten nach Ostern unseren gewohnten Alltag wieder aufnehmen. Und wenn das nicht der Fall ist? Wird man sich wahrscheinlich bei den Politikern beschweren, als sei die Situation ihnen geschuldet und nicht dem Virus. Es ist halt so: „Heimsuchungen gehen tatsächlich alle Menschen gleich an, aber es ist schwer, an sie zu glauben, wenn sie über einen hereinbrechen.“ (2)
Camus fährt an dieser Stelle fort, indem er gleichsam die doppelte Ebene einzieht, für die Die Pest eben auch steht:
„Es hat auf der Erde ebenso viele Pestseuchen gegeben wie Kriege. Und doch finden Pest und Krieg die Menschen immer gleich wehrlos. (…) Wenn ein Krieg ausbricht, sagen die Leute: «Er kann nicht lange dauern, es ist zu unsinnig.» Und ohne Zweifel ist ein Krieg wirklich zu unsinnig, aber das hindert ihn nicht daran, lange zu dauern. Dummheit ist immer beharrlich. Das merkte man, wenn man nicht immer mit sich selbst beschäftigt wäre. In dieser Beziehung waren unsere Mitbürger wie alle Leute, sie dachten an sich, oder anders ausgedrückt, sie waren Menschenfreunde: sie glaubten nicht an Heimsuchungen. Weil die Plage das Maß des Menschlichen übersteigt, sagt man sich, sie sei unwirklich, ein böser Traum, der vergehen werde. Aber er vergeht nicht immer, und von bösem Traum zu bösem Traum vergehen die Menschen, und die Menschenfreunde zuerst, weil sie sich nicht vorgesehen haben.“ (2)
Das sind nun keine beruhigenden sondern durchaus warnende und erschreckend passende Worte, aber zur Beruhigung liest man ja auch nicht Die Pest. Man tut Camus allerdings auch unrecht, wenn man den Roman jetzt nur als das Buch zur Seuche liest – das will ich unbedingt betonen, auch wenn oder erst recht weil ich gerade selbst dazu beitrage. Und da spreche ich jetzt noch nicht einmal von der metaphorischen Ebene, von Krieg, Naziherrschaft und Absurdität der condition humaine – sondern von all den wie beiläufigen Beobachtungen und kleinen Geschichten am Rande. Auf die Frage eines Journalisten „Gibt es in Ihrem Werk ein Ihrer Meinung nach wichtiges Thema, das Sie von Ihren Interpreten vernachlässigt sehen?“ hatte Camus einst geantwortet: „Der Humor“ (3). In Die Pest, man glaubt es kaum, gibt es jede Menge davon. Allerdings neigt man vielleicht dazu, diesen Aspekt zu übersehen, weil man nicht damit rechnet. Aber jetzt wissen Sie ja Bescheid. Wäre nämlich zu schade drum. In diesem Sinne: bleiben Sie wenn möglich heiter, trotz allem, und vor allem bleiben Sie gesund – à bientôt!
P.S. Vielleicht mögen Sie sich Die Pest vorlesen lassen? Das Literaturcafé in Freudenberg lädt ab morgen, 30. März, bis zum 10. April 2020 täglich von
Montag bis Freitag von 10 bis 11 Uhr morgens zu einer Live-Lesung ein per Videostream auf Youtube ein. Die Übertragung erfolgt aus der Lounge der Black Forest Lodge in Igelsberg bei Freudenstadt, es liest Wolfgang Tischer. Ich werde auf jeden Fall mal reinhören! Hier der Link zum Live-Stream: www.literaturcafe.de/die-pest-albert-camus-live. Gelesen wird übrigens die neue Übersetzung von Uli Aumüller (Rowohlt 1997), während ich meist aus meiner zerfledderten alten Taschenbuchausgabe mit der Übersetzung von Guido G. Meister zitiere. Der Vergleich wäre auch mal ein hübsches Thema.
(1) Albert Camus, Die Pest. Deutsch von Guido G. Meister. Rowohlt-Verlag, Reinbek b. Hamburg 1950, S. 13/14; a.a.O., S. 27. (3) „Ein paar Fragen in Prousts Manier. Ein spätes Interview mit Jean-Claude Brisville (1959), in «Du». Die Zeitschrift der Kultur. Heft Nr. 6/1992: Wiederbegegnung mit Albert Camus. Zürich, Juni 1992, S. 20
Liebe Anne Katrin,
ich habe mich an anderer Stelle bereits kritisch gegenüber manch medialen „Schnellschüssen“ einer Vergleichbarkeit zwischen der Corona-Krise und Albert Camus‘ „Die Pest“ geäußert. Doch Ihre Tagebuch-Betrachtungen sind, in dem Zusammenspiel aus Detail-Betrachtungen, philosophischen Reflexionen und persönlichem Erleben für mich ein großer Lesegenuss, der einmal mehr aufzeigt, wie zeitlos und mit wieviel Beobachtungsgabe Camus seinen Roman geschrieben hat.
Ich freue mich auf Ihre weiteren Beiträge und hoffe, dass Sie den Roman auf diese Weise bis zum Ende durcharbeiten können, auch wenn wir uns hoffentlich viel früher von der Seuche befreit sehen dürfen.
Herzlich Grüße an Sie und alle blog-Leser*innen
Sebastian Ybbs
Lieber Sebastian Ybbs, herzlichen Dank für Ihren freundlichen Kommentar! Ich muss gestehen, dass ich die wirklich inzwischen unzähligen Beiträge über Corona und Camus bisher nur zur Kenntnis genommen aber nicht gelesen habe. Ich fürchtete, mich damit zu sehr selbst zu blockieren (nach dem Motto „es ist schon alles gesagt, aber nicht von jedem“ – da muss ich mich nicht auch noch einklinken…). Vielleicht belasse ich es besser dabei… und bleibe bei meinem ganz persönlichen Zugang, so wie ja fast immer im Blog. Umso mehr freue ich mich, dass auch Sie daran Gefallen finden! Mit herzlichem Gruß und bleiben Sie gesund!