Auf den Spuren des „echten“ Dr. Rieux in Le Chambon

War er das Vorbild für Dr. Rieux aus Die Pest? Gedenktafel für Dr. Roger Le Forestier in Le Chambon-sur-Lignon. ©Foto: Klaus Stoevesandt

In dem ziemlich großen und immer noch weiter anwachsenden Stapel von Büchern zu Camus-Themen, die darauf warten, einmal hier im Blog vorgestellt zu werden, drohte ein schmales, 2016 im Bernstein-Verlag erschienenes Bändchen fast unterzugehen: Der Doktor Rieux des Albert Camus – Eine Nachsuche möglicher Vorbilder von Klaus Stoevesandt. Da kommt der Anlass, dass der Verfasser in Kürze bei der Albert-Camus-Gesellschaft in Aachen zu Gast sein wird, gerade recht, um es nun endlich hier zu würdigen. Denn das hat es durchaus verdient.

Aufmerksamen Blog-Leserinnen und -Lesern dürfte Klaus Stoevesandt nicht ganz unbekannt sein: Im Mai 2014 befragte ich ihn zu seinem Vortrag Albert Schweitzer und Albert Camus – Auf der Suche nach Maßen für die Menschlichkeit, den er bei der Jahrestagung der Internationalen Albert Schweitzer-Gesellschaft in Königsfeld hielt. Stoevesandt spürt darin der geistes-verwandtschaftlichen Nähe zwischen den beiden Alberts nach, die sich in einer kompromisslosen humanistischen Grundhaltung ausdrückt – wohl wissend, dass es eine direkte Beziehung oder einen konkreten Austausch zwischen beiden wohl nicht gegeben hat.

Ein verbindendes Glied zwischen ihnen findet sich gleichwohl, nämlich in Gestalt des Arztes Roger Le Forestier. Dieser hatte als junger, frisch promovierter Arzt Kontakt zu Albert Schweitzer aufgenommen, mit dem Wunsch, ihm nach Afrika zu folgen und in dessen Urwaldkrankenhaus in Lambarene zu praktizieren. Krank und enttäuscht kehrte er jedoch nach seinem nur vier Monate dauernden Aufenthalt dort und einem weiteren halben Jahr als Missionsarzt in Kamerun nach Frankreich zurück. 1935 ließ sich der ursprünglich aus Montpellier in Südfrankreich stammende 27jährige Mediziner in dem kleinen, auf einem Hochplateau in der Region Rhône-Alpes gelegenen Luftkurort Le Chambon-sur-Lignon nieder, um sich dort eine neue Existenz aufzubauen – nur wenige Kilometer von dem kleinen Weiler Le Panelier entfernt, wo die Familie von Francine Camus eine Ferienwohnung besaß.

Nachdem sich Alberts Gesundheitszustand im Zuge seiner Tuberkulose-Erkrankung wieder einmal verschlechtert hatte und man ihm zu einem Erholungsaufenthalt im französischen Hochland geraten hatte, reisten Albert und Francine im Sommer 1942 dorthin. Unfreiwillig sollte sich Alberts Aufenthalt dort auf zunächst unabsehbare Zeit verlängern: Während Francine am Ende der Sommerferien 1942 nach Oran in den Schuldienst zurückkehrte, blieb Albert allein zurück. Am 11. November 1942 landeten die Alliierten in Nordafrika. Die deutschen Truppen besetzten Südfrankreich. Der Rückweg in seine Heimat war für Camus abgeschnitten – 15 Monate verbrachte er im unfreiwilligen Exil in der Nähe von Le Chambon. Hier also treffen sich die Wege von Albert Camus und Roger Le Forestier, der in seiner Praxis über ein Gerät zur Pneumothorax-Behandlung verfügte, und den Camus nachweislich mehrfach aufsuchte, um sich behandeln zu lassen.

Face à la peste brune –
J’ai refusé de voir la défaite de l’homme,
j’ai soigné, j’ai calmé, j’ai consolé, j’ai guéri.

Im Angesicht der braunen Pest –
Ich habe mich geweigert, den Niedergang des Menschen zu sehen, 
ich habe gepflegt, ich habe beruhigt, ich habe getröstet, ich habe geheilt.

Inschrift der Gedenktafel für Roger Le Forestier in Le Chambon

Die Tatsache, das Camus zu dieser Zeit an seinem Roman Die Pest arbeitete gäbe nun allein sicherlich noch keinen Anlass, in seinem behandelnden Arzt das Vorbild für den Dr. Rieux aus der Pest zu sehen. Dies drängt sich erst auf, wenn man näher in die Geschichte des Örtchens Le Chambon einsteigt und erfährt, welche Rolle Roger Le Forestier darin gespielt hat. Unter dem Deckmäntelchen des beschaulichen Kurortes war dieses Le Chambon zu einem Zufluchtsort für verfolgte Juden und Zentrum des passiven Widerstandes geworden. Tausende jüdische Flüchtlinge unterschiedlicher Nationen wurden von den hugenottisch geprägten Bewohnern vor dem Zugriff der Nazis und der kollaborierenden französischen Polizei gerettet. Roger Le Forestier selbst, der dabei eine maßgebliche Rolle spielte, fiel noch in den letzten Tagen der Besatzungszeit am 20. August 1944 einem Massaker der deutschen SS unter dem Kommando des berüchtigten Gestapo-Chefs von Lyon Klaus Barbie zum Opfer.

Klaus Stoevesandt ist dieser Geschichte nachgegangen und hat regelrechte Forschungsarbeit betrieben. So hat er die im Schweitzer-Archiv in Günsbach verwahrten Briefe zwischen Albert Schweitzer und Roger Le Forestier eingesehen und Kontakt mit dem ältesten Sohn Le Forestiers, Jean-Philippe Le Forestier, aufgenommen, der zu einem Treffens eigens von Südfrankreich nach Le Chambon anreiste. Von ihm erhielt er u.a. Transkriptionen von handschriftlichen Aufzeichnungen seines Vaters Über das Leiden, die viel über dessen ärztliches Ethos aussagen.

In seiner kleinen Schrift verknüpft Klaus Stoevesandt die verschiedenen gedanklichen Fäden, die Camus, Schweitzer und Le Forestier zusammenbringen. Gewissermaßen als Hintergrundfolie zeichnet er zunächst eine kurze Skizze von Camus‘ Pestchronik und ihrer Protagonisten. Ein eigenes Kapitel widmet er dem jungen Arzt Roger Le Forestier und zeichnet anhand des (unvollständig) überlieferten Briefwechsels mit Albert Schweitzer dessen glücklos verlaufenden Aufenthalt in Lambarene nach. Die von Le Forestiers 1935/36 verfassten Aufzeichnungen über das Leiden werden erstmals überhaupt in Auszügen veröffentlicht, und im Angesicht der Fragen nach dem Sinn menschlichen Leidens und der Zweifel (des gläubigen Christen Le Forestier), mit welcher Rechtfertigung diese dem Menschen von Gott zugedacht sein könnten, fühlt man sich unmittelbar an Gedanken aus Camus‘ Mythos des Sisyphos erinnert.

Ein weiteres Kapitel beschreibt Camus‘ Aufenthalt in Le Chambon und stellt gut nachvollziehbar die Verbindung zwischen der so besonderen Situation dieses kleinen „Widerstandsdorfes“ und Camus‘ hier im Entstehen begriffenen Roman Die Pest her. Vor allem in diesem Kapitel, dessen Camus betreffende Inhalte im Wesentlichen auf der Biographie von Olivier Todd beruhen, hätte man sich allerdings einen sorgfältigeren Umgang mit Quellenangaben gewünscht – gerade angesichts der engagierten Nachforschungen, die Klaus Stoevesandt betrieben hat, ist es schade, dass der flüssig geschriebene Text nicht zur Gänze wissenschaftlichem Standard gerecht wird, auch wenn das vielleicht gar nicht der Anspruch des Autors war. Der erzählt uns zum Abschluss noch tagebuchartig von seiner Reise auf den Spuren von Camus, Schweitzer und Le Forestier nach Le Chambon und den damit verbundenen Begegnungen. Für mich, die selbst immer wieder gern solche Spurensuche-Ausflüge unternimmt, wird dabei unmittelbar spürbar, wie viel Leben in dieser ganzen Geschichte steckt, wie die Vergangenheit ins Heute hineinreicht, und wie fruchtbar und wichtig solch eine Art persönlicher Erinnerungsarbeit sein kann. Denn ganz gleich, wie sehr die Begegnung mit dem Arzt Dr. Roger Le Forestier Camus letztlich bei der Gestaltung seines Dr. Rieux beeinflusst hat – die Spurensuche von Klaus Stoevesandt trägt dazu bei, die Erinnerung an ihn und die anderen stillen Helden von Le Chambon zu bewahren, die nicht im Roman sondern im richtigen Leben der braunen Pest getrotzt haben.

Für ein schmales kleines Bändchen von 67 Textseiten ist das alles zusammengenommen ein beachtlicher Ertrag. Der Bernstein-Verlag ist dafür zu loben, dass er unter dem Motto „To short to be a book, too important to be unpublished“ solch einer Studie ein Forum bietet.

Klaus Stoevesandt: Der Doktor Rieux des Albert Camus – Eine Nachsuche möglicher Vorbilder. Bernstein-Verlag (Bernstein-Regal Nr. 14), Bonn/Siegburg 2016, 72 Seiten, Rückenstichheftung, 8 Euro (ISBN: 978-3-945426-16-6).
Beim Verlag bestellen. 

 

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Bedingungslose Humanität – Albert Camus trifft Albert Schweitzer

Klaus Stoevesandt hält auf Einladung der Albert-Camus-Gesellschaft am 17. Februar 2017 zu diesem Thema einen Vortrag in Aachen:

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6 Antworten zu Auf den Spuren des „echten“ Dr. Rieux in Le Chambon

  1. Artur Borst sagt:

    Ueber Schlettes Schrift „Albert Camus und die Juden mit einem Blick auf “ die Griechen“ bin ich heute auf diese interessante und mich bewegende Seite gestoßen. „La Peste“ ist damit nicht nur eine Fabel ( Daniel Defoe), sondern hat einen historischen und mutmachenden Kern. Herzliche Grüße Artur Borst.

    • Anne-Kathrin Reif sagt:

      Lieber Herr Borst, vielen Dank für den Hinweis und Kommentar und bitte entschuldigen Sie die späte Freischaltung – er war in den Spams gelandet. Herzliche Grüße, Anne-Kathrin Reif

  2. Klaus Stoevesandt sagt:

    Nach plausiblen Gründen hatte ich damals gesucht, ob der Doktor Le Forestier ein gewisses Vorbild für den Doktor Rieux gewesen sein könnte. Bestätigt wurde, dass Albert Camus und Doktor Le Forestier bei Behandlungen mehrfach miteinander gesprochen haben müssen. Dieser Arzt hat also sowohl Albert Camus als auch Albert Schweitzer persönlich gekannt.
    Bei meinen Recherchen hat sich vor allem auch ergeben, in welchem Umfang die besondere Art der selbstlosen, verschwiegenen Hilfe der Bürger von Le Chambon für die Verfolgten von Camus in die Pestchronik aufgenommen worden ist. Davon habe ich ergänzend zum Buch in dem Aachener Vortrag erzählt.

  3. Willy Stucky sagt:

    Wenn schon le Forestier/Rieux, dann auch mal wieder ein paar persönliche Gedanken meinerseits zu dieser wichtigen Figur in Camus‘ Werk, empfinde ich es doch stets als wohltuend, wie erfrischend persönlich Frau Dr. Reifs Berichte oft sind.

    Gut möglich, dass Camus dem furchtlosen Arzt Roger le Forestier ein monumentales Denkmal gesetzt hat in seiner Parabel „La Peste“; und es trifft gewiss zu, dass sein Dr. Rieux seine menschliche Pflicht im Kampf gegen die Pest heldenhaft erfüllt. Über sich hinaus wächst Rieux meines Erachtens aber erst, wenn er als nüchterner Wissenschaftler festhält, dass die Pest nie besiegt werden kann, weil sie in uns allen schlummert, weil sie Teil der condition humaine ist. Und auch Camus hielt sich durchaus nicht für eine Ausnahme, weshalb es zum Beispiel läppisch ist, ihm im Nachhinein moralisches Versagen nachzuweisen, wie dies mitunter der Fall ist.
    Natürlich hat er wie jeder Mensch moralisch manchmal versagt. Nur hat er dies nie mit schönen Worten bemäntelt, sondern zum Beispiel zugegeben, dass seine Mutter ihm wichtiger sei als die (abstrakte) Gerechtigkeit: Er wolle durchaus nicht, dass sie in ihrer Heimat Algerien von einer Bombe zerrissen werde.
    Camus war ein Mensch und kein Tugendbold, der seine moralische Schönheit zur Schau trägt wie zurzeit gewisse Redakteurinnen und Redakteure in unseren renommierten Blättern. Camus schrieb noch während der braunen Pest unbeirrt seine „Lettres à un ami allemand“ und forderte nach dem Sieg der Alliierten seine Landsleute auf, die Kollaborateure nicht zu erschiessen. So war es nichts als folgerichtig, dass die links-intellektuellen Tugendbolde ihn früher oder später demütigen und abschiessen mussten. Daraufhin wurde Camus bekanntlich sehr schweigsam und zog sich in sein Theater zurück, das er sein Kloster nannte: Wie soll man links-intellektuellen Tugendbolden beibringen, dass auch die SS-Offiziere Tugendbolde gewesen waren?

    Herzlichen Dank, liebe Frau Reif, für Ihren interessanten Beitrag!

    • Anne-Kathrin Reif sagt:

      Lieber Herr Stucky,
      vielen Dank meinerseits für Ihre Einlassungen – ich bin da ganz bei Ihnen. Herzliche Grüße in die Schweiz, Anne-Kathrin Reif

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